Rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers

Zur rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers gibt es nach Ansicht des Oberlandesgerichts Braunschweig auch nach Umsetzung der Richtlinie 2016/1919/EU („PKH-Richtlinie“) durch das Gesetz zur Neureglung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 keinen Anlass.

Rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers

Im Beschwerdeverfahren über die Bestellung als Pflichtverteidiger ist das Fortbestehen einer Beschwer im Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts Voraussetzung für die Sachentscheidung. Die Beschwer fehlt, wenn das beanstandete Geschehen nicht mehr korrigiert werden kann oder wenn es durch die Entwicklung des Verfahrens überholt ist[1]

Ein solcher Fall liegt nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens vor, weil die Beiordnung eines Pflichtverteidigers allein im öffentlichen Interesse zur Sicherung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs erfolgt[2] und dieses Ziel nach ordnungsgemäßer Durchführung des Verfahrens unter Mitwirkung des Rechtsanwalts als Wahlverteidiger bereits erreicht ist.

Im Gegensatz zur Auffassung des Oberlandesgerichts Nürnberg[3] hat sich an dieser Rechtslage auch nach der Reform durch das Gesetz zur Neureglung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 nichts geändert. Denn mit der Neuregelung, die die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (PKH-Richtlinie) bezweckte, sollte nach dem Willen des Gesetzgebers[4] gerade kein Systemwechsel verbunden sein[5]. Vielmehr ergibt sich aus den Gesetzesmaterialen[6] ausdrücklich, dass die sofortige Beschwerde eine fortbestehende Beschwer voraussetzt[7].

Wie das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg[8] zutreffend ausgeführt hat, folgt auch kein anderes Ergebnis aus Art. 4 Abs.1 der PKH-Richtlinie, deren Wertungen das Oberlandesgericht Nürnberg[9] ungeachtet ihres Anwendungsbereichs (dazu Art. 2 der PKH-Richtlinie) auf das Vollstreckungsverfahren übertragen hat. Die Richtlinie sieht nicht vor, den Betroffenen in jedem Fall von den Kosten der Verteidigung freizuhalten[10]. Nach Art. 4 Abs. 1 haben die Mitgliedstaaten zwar sicherzustellen, dass die von der Richtlinie erfassten Personen über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen. Die Beiordnung bezweckt jedoch den „Zugang zu einem Rechtsanwalt“ (Art. 3 der PKH Richtlinie) und setzt deshalb gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie voraus, dass die Bereitstellung finanzieller Mittel „im Interesse der Rechtspflege erforderlich“ ist. Ein solches Erfordernis besteht hier gerade nicht mehr, weil das Überprüfungsverfahren, das unter Mitwirkung von Rechtsanwalt P ordnungsgemäß durchgeführt wurde, bereits rechtskräftig abgeschlossen ist.

Oberlandesgericht Braunschweig, Beschluss vom 2. März 2021 – 1 Ws 12/21

  1. KG, Beschluss vom 27.02.2006, 1 AR 1471/05 – 3 Ws 624/05 2; KG, Beschluss vom 06.08.2009, 1 AR 1189/09 – 4 Ws 86/09 4; OLG Hamburg, Beschluss vom 16.09.2020, 2 Ws 112/20 13; Paul in Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl.2019, Rn. 7 vor § 296[]
  2. BGH, Beschluss vom 18.08.2020, StB 25/20 6 f.; KG Berlin, Beschluss vom 27.02.2006, a.a.O., Rn. 2; OLG Bremen, Beschluss vom 23.09.2020, 1 Ws 120/20 6[]
  3. OLG Nürnberg, Beschluss vom 06.11.2020, Ws 962 – 963/20[]
  4. vgl. dazu S.20 ff. des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BT-Drs. 19/13829[]
  5. OLG Hamburg, a.a.O., Rn.16[]
  6. BT-Drs. 19/13829, S. 44[]
  7. so auch BGH, a.a.O., Rn. 8 f. [unter Hinweis auf S. 49 der Drucksache 19/13829 für die Frage der sofortigen Beschwerde nach § 143 a Abs.4 StPO] und OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 16[]
  8. OLG Hamburg a.a.O., Rn.15[]
  9. OLG Nürnberg, a.a.O., Rn. 27[]
  10. OLG Hamburg, a.a.O.[]