Sittenwidrige Schädigung und die Expertenhaftung

Mit der Frage der Haftung eines Rechtsanwalts und Wirtschaftsprüfers wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung von Anlegern durch irreführende Äußerungen bei Vorträgen und Veranstaltungen mit Vertriebsmitarbeitern über die Werthaltigkeit von Beteiligungen musste sich der Bundesgerichtshof jetzt in mehreren Verfahren befassen:

Sittenwidrige Schädigung und die Expertenhaftung

Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt[1]. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde vertragliche Pflichten oder das Gesetz verletzt oder bei einem anderen einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage tretenden Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann[2].

Im Bereich der Expertenhaftung für unrichtige (Wert-)Gutachten und Testate kommt ein Sittenverstoß bei einer besonders schwer wiegenden Verletzung der einen Experten treffenden Sorgfaltspflichten in Betracht. Als sittenwidrig ist dabei zu beurteilen, dass der Auskunfterteilende aufgrund des Expertenstatus ein besonderes Vertrauen für sich in Anspruch nimmt, selbst aber nicht im Mindesten den an einen Experten zu richtenden Maßstäben genügt[3]. Der Sittenverstoß setzt ein leichtfertiges und gewissenloses Verhalten des Auskunftgebers voraus. Es genügt nicht ein bloßer Fehler des Gutachtens, sondern es geht darum, dass sich der Gutachter durch nachlässige Erledigung, z. B. durch nachlässige Ermittlungen oder gar durch Angaben ins Blaue hinein der Gutachtenaufgabe entledigt und dabei eine Rücksichtslosigkeit an den Tag legt, die angesichts der Bedeutung des Gutachtens für die Entscheidung Dritter als gewissenlos erscheint[4].

Diese anerkannten Grundsätze der Expertenhaftung sind zwar im vorliegenden Streitfall nicht unmittelbar anwendbar, weil dem Beklagten, einem Rechtsanwalt und Wirtschaftsprüfer, nicht angelastet wird, ein unrichtiges (Wert-)Gutachten oder Testat erteilt zu haben. Sein Verhalten ist jedoch gleichwohl als sittenwidrig zu beurteilen. Denn der Beklagte stellte sich mit seinem Expertenstatus in den Dienst der von ihm geprüften kapitalsuchenden E-Gruppe und lieferte den Vertriebsmitarbeitern irreführende Verkaufsargumente. Hierdurch setzte er sich rücksichtslos über die Interessen potentieller Anlageinteressenten hinweg, die mit seinen Äußerungen zwangsläufig in Berührung kamen und diese im Vertrauen auf seine berufliche Integrität und seine fachliche Autorität zur Grundlage ihrer Entscheidung machten[5].

Gerade der Hinweis des Vermittlers auf die Einschaltung eines Wirtschaftsprüfers und dessen Bonitätsbekundungen hatte vorliegend in allen geführten Beratungsgesprächen die erstrebte Wirkung erzielt hätten, die Kläger zur Zeichnung der Anlagen zu veranlassen. Damit bedurfte es keiner weitergehenden Feststellungen. Die Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in den sog. COMROAD-Fällen[6] betreffen anders gelagerte Fälle, denen falsche adhocMitteilungen zugrunde lagen, bei denen keine tatsächliche Vermutung dafür spricht, dass eine dadurch ausgelöste Anlagestimmung kausal war für die getroffenen Anlageentscheidungen. Im Streitfall haben die Kläger ihre Anlageentscheidung nicht nur aufgrund einer von ihnen behaupteten, durch eine falsche adhocMitteilung ausgelösten Anlagestimmung getroffen, sondern aufgrund einer persönlichen Beratung durch einen Anlagevermittler, der sich die irreführenden Äußerungen des Beklagten über ein besonderes Eigenkapital unter Vergleich mit hochwertigen großen Unternehmen zu Nutze machte.

In Fällen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung dient der Schadensersatzanspruch nicht nur dem Ausgleich jeder nachteiligen Einwirkung durch das sittenwidrige Verhalten auf die objektive Vermögenslage des Geschädigten. Vielmehr muss dieser sich auch von einer „ungewollten“ Verpflichtung wieder befreien können. Schon eine solche Verpflichtung kann einen gemäß § 826 BGB zu ersetzenden Schaden darstellen. Insoweit bewirkt die Norm einen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit[7].

Bereits deshalb sind auch in diesem Zusammenhang die Gründe, die letztendlich zur Insolvenz der Unternehmen der E-Gruppe geführt haben, unerheblich. Der gemäß § 249 Abs. 1 BGB begründete Anspruch eines Anlegers auf Rückgängigmachung der Beteiligung, die ihm unter Verletzung seines wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts aufgedrängt wurde, geht nicht verloren, wenn sich die Anlage aus Gründen nachteilig entwickelt, die vom Gegenstand der Fehlinformation verschieden sind[8]. Da nach den getroffenen Feststellungen die von den Klägern erworbenen Beteiligungen weder so hochwertig noch so risikoarm waren, wie sie der beklagte Rechtsanwalt und Wirtschaftsprüfer beschrieben hatte, sind die Kläger bereits durch die Zeichnung der Anlagen unmittelbar geschädigt worden.

Der Beklagte hatt auch Kenntnis von den die Sittenwidrigkeit prägenden Umständen sowie Schädigungsvorsatz.

Nach den getroffenen Feststellungen war dem Beklagten klar, dass seine Äußerungen als Wirtschaftsprüfer zur exzellenten Eigenkapitalausstattung der E-Gruppe und zum Charakter ihrer Aktien als „Blue Chips“ die Anleger erreichen würden und geeignet waren, sie dadurch zur Zeichnung einer Anlage zu motivieren, indem sie die wirtschaftliche Potenz der Unternehmensgruppe falsch einschätzten.

Darüber hinaus besaß er auch Schädigungsvorsatz. § 826 BGB setzt insoweit keine Schädigungsabsicht im Sinne eines Beweggrundes oder Zieles voraus, sondern es genügt bedingter Vorsatz hinsichtlich der für möglich gehaltenen Schadensfolgen, wobei dieser nicht den konkreten Kausalverlauf und den genauen Umfang des Schadens, sondern nur Art und Richtung des Schadens umfassen muss; es reicht dabei jede nachteilige Einwirkung auf die Vermögenslage einschließlich der sittenwidrigen Belastung fremden Vermögens mit einem Verlustrisiko aus[9].

Da der Beklagte seine Äußerungen bei Vorträgen und Veranstaltungen mit Vertriebsmitarbeitern getätigt hat, nahm er billigend in Kauf, dass die von ihm gegebenen Informationen auch im Vertrieb zur Bewerbung der Beteiligungen verwandt werden, um Interessenten zur Zeichnung einer Anlage zu veranlassen, die nicht den erweckten Vorstellungen entsprach. Soweit die Revision dies anders sehen will, setzt sie lediglich in revisionsrechtlich unzulässiger Weise ihre eigene Würdigung an die Stelle der tatrichterlichen Würdigung des Berufungsgerichts, ohne relevante Verfahrensfehler aufzuzeigen. Da der Schaden – wie oben ausgeführt – bereits in dem Erwerb der Beteiligung liegt, musste sich der bedingte Vorsatz des Beklagten lediglich darauf beziehen, dass seine unzutreffenden Äußerungen als Abschluss- und Wirtschaftsprüfer und das ihm entgegengebrachte Vertrauen des Publikums für die Anlageentscheidung ursächlich werden konnten. Dies war vorliegend der Fall.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 19. November 2013 – VI ZR 336/12 ((ebenso: BGH, Urteile vom 19.11.2013 – VI ZR 343/12, VI ZR 344/12, VI ZR 410/12, VI ZR 411/12, VI ZR 13/13)

  1. vgl. BGH, Urteile vom 15.10.2013 – VI ZR 124/12; vom 04.06.2013 – VI ZR 288/12, VersR 2013, 1144 Rn. 14; vom 20.11.2012 – VI ZR 268/11, VersR 2013, 200 Rn. 25; BGH, Urteil vom 09.07.2004 – II ZR 217/03, NJW 2004, 2668, 2670; Katzenmeier in DaunerLieb/Langen, BGB, 2. Aufl., § 826 Rn. 2 f.; Palandt/Sprau, BGB, 72. Aufl., § 826 Rn. 4, jeweils mwN[]
  2. vgl. BGH, Urteil vom 15.10.2013 – VI ZR 124/12; BGH, Urteile vom 19.07.2004 – II ZR 217/03, NJW 2004, 2668, 2670; vom 19.10.1987 – II ZR 9/87, BGHZ 102, 68, 77 f.; Palandt/Sprau, BGB, aaO, jeweils mwN[]
  3. vgl. Staudinger/Oechsler, BGB, Neubearb.2009, § 826 Rn.207 f.[]
  4. vgl. BGH, Urteile vom 21.04.1970 – VI ZR 246/68, WM 1970, 878, 879; vom 12.12.1978 – VI ZR 132/77, VersR 1979, 283, 284; vom 24.09.1991 – VI ZR 293/90, NJW 1991, 3282; BGH, Urteil vom 18.06.1962 – VII ZR 237/60, VersR 1962, 803, 804 f.; Staudinger/Oechsler, aaO Rn. 213[]
  5. vgl. Staudinger/Oechsler, aaO Rn. 210 und 214 zum Wertgutachten[]
  6. vgl. etwa BGH, Urteile vom 03.03.2008 – II ZR 310/06, WM 2008, 790 – COMROAD VIII und vom 04.06.2007 – II ZR 173/05, WM 2007, 1560 – COMROAD V[]
  7. vgl. BGH, Urteil vom 21.12.2004 – VI ZR 306/03, BGHZ 161, 361, 367 f.[]
  8. vgl. BGH, Urteil vom 05.07.1993 – II ZR 194/92, BGHZ 123, 106, 113 f.[]
  9. vgl. etwa BGH, Urteil vom 13.09.2004 – II ZR 276/02, WM 2004, 2150, 2155[]